Montag

Wolfgang Heribert von Dalberg und Lessings Nathan der Weise

Kurze Anmerkungen zu einem kaum bekannten Theaterskandal aus der Anfangszeit des Mannheimer Nationaltheaters

© Liselotte Homering, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Abteilung Theater- und Literaturgeschichte

Für Klaus Servene

Im Internet ist an manchen Stellen die Rede davon, Gotthold Ephraim Lessings „Dramatisches Gedicht“ Nathan der Weise, 1779 im Druck erschienen, sei in Mannheim am 15. Oktober 1779 uraufgeführt worden, und zwar durch eine semiprofessionelle Theatertruppe. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig, zumindest, was das Aufführungsdatum betrifft. Aber dieses ist entscheidend.

Im Verlauf der intensiven Vorbereitung für einen Vortrag über den Intendanten des Mannheimer Theaters von 1778 bis 1803, Wolfgang Heribert von Dalberg (1750-1806), hat sich folgender und bisher wenig beachteter Sachverhalt ergeben. Bekanntlich musste Kurfürst Carl Theodor (1724-1799) aufgrund der wittelsbachischen Hausverträge infolge des plötzlichen Todes des bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph, 1777/1778 die Regentschaft übernehmen und seine Residenz nach München verlegen. Dies hatte den Umzug fast des gesamten Hofstaats im Herbst 1778 nach München zur Folge. Damit ging Mannheim beinahe aller seiner weithin berühmten wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen und des jeweils dazu gehörigen Personals verlustig (besonders betroffen waren im künstlerischen Bereich die Hofmusik, die Hofoper und das 1777 gegründete deutschsprachige Theater in B 3, das Nationaltheater).

In dieser für die Stadt hochprekären Zeit setzte sich besonders für den Erhalt wenigstens des Nationaltheaters und das Engagement eines neuen Ensembles der junge Wolfgang Heribert von Dalberg mit überzeugender Vehemenz beim Kurfürsten ein. Dieser berief ihn zum Intendanten und beauftragte ihn mit der Fortführung des deutschsprachigen Schauspiels in Mannheim.

Aufgrund mancher positiver Umstände hatte Dalberg bald ein sehr gutes und überwiegend junges Ensemble zusammenengagiert mit den (angehenden) Stars Johann Michael Böck, August Wilhelm Iffland, Esther Charlotte Brandes und vielen anderen. So überraschte es auch nicht, dass der äußerst ambitionierte, eben mal 28 Jahre zählende Intendant, für die geplante Wiedereröffnung der Bühne im Herbst 1779 einen Auftakt nach Maß hinzulegen beabsichtigte. Dafür wandte er sich zunächst über seinen berühmten und kulturaffinen Bruder, den geistlichen Staatsmann Carl Theodor von Dalberg (1744-1817) in Erfurt, der ausgezeichnete Beziehungen zum Weimarer Hof unterhielt, an Johann Wolfgang von Goethe. In einem Brief bat Dalberg darum, dessen gerade in privater Gesellschaft erstmals aufgeführtes und noch ungedrucktes Drama Iphigenie auf Tauris als erster zur öffentlichen Aufführung zu erhalten.

Allerdings gab ihm Goethe einen Korb, weil er das Stück prinzipiell noch nicht für aufführbar hielt. Also scheint die Suche weitergegangen zu sein, und nun kommt Lessings Nathan der Weise ins Spiel: Dalberg konnte sich auf einen ausgezeichneten und erfahrenen Berater in Gotha verlassen, den Schriftsteller, Theaterkenner und –autor Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797), mit dem er schriftlichen, aber offenbar auch persönlichen Austausch pflegte. Es ist möglich, dass dieser dem frisch gebackenen Intendanten vorschlug, sein Theater mit der Uraufführung von Lessings zwar 1779 veröffentlichten, aber noch an keinem Theater gespielten Nathan zu eröffnen. Dies hätte das Mannheimer Theater schon zweieinhalb Jahre vor der spektakulären Schiller’schen Räuber-Uraufführung (1782) auf einen Schlag in aller Munde sein lassen.

Es ist ein wenig spekulativ anzunehmen, dass Lessing sein Einverständnis gegeben haben muss, das Stück zunächst (versuchsweise?) im Rahmen einer privaten Gesellschaft in Mannheim aufführen zu lassen.

In dieser trafen sich professionelle Schauspieler, möglicherweise aus dem neu engagierten Ensemble, sowie Laiendarsteller, zu denen auch Wolfgang Heribert von Dalberg und dessen Frau Elisabeth Augusta zählten.

Diese inoffizielle Aufführung hat mit Sicherheit zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als das neue Haus noch nicht eröffnet war. Aus einem Brief von Friedrich Wilhelm Gotter wissen wir, dass sich offensichtlich die „Geistlichkeit“ (er schreibt die „Schwarzröcke“) gegen eine offizielle Aufführung dieses dem Humanismus, aufklärerischer Toleranz und Religionsfreiheit verpflichteten Stückes ausgesprochen haben muss.

Dass Lessing einen Juden zum positiven Helden seines Stückes gemachte hatte, mag die „Schwarzröcke“ zusätzlich aufgebracht haben. Dalberg fügte sich dem Verdikt offensichtlich, wofür Gotter ihn aus Gotha unmissverständlich rügte.

Vermutlich war durch die vergebliche Suche nach einem bedeutenden Eröffnungsstück allzu viel Zeit vergangen. Und so wurde das neue Nationaltheater weder mit Goethes Iphigenie, noch mit Lessings Nathan, eröffnet, sondern am 7. Oktober 1779 mit einem bekannten Stück, das wohl die meisten der Schauspieler/innen schlichtweg „drauf“ hatten, mit Johann Christian Bocks Lustspiel nach Carlo Goldoni Geschwind, ehe es jemand erfährt oder Der besondere Zufall.

Der Eindruck entsteht, dass Dalberg sich unter erheblichen Erfolgsdruck gesetzt hatte. Schließlich musste er unter Beweis stellen, dass die Entscheidung des Kurfürsten für den Erhalt des Mannheimer Theaters gerechtfertigt war. So überrascht es kaum noch, dass der Intendant die nächste sich bietende Gelegenheit beim Schopf packt, um den Theatercoup seines Lebens in Szene zu setzen Um jeden Preis zieht er 1782 die Uraufführung von Friedrich Schillers verwegenem Bühnenerstling Die Räuber durch und macht mit einem Schlag das Mannheimer Nationaltheater zu einer der berühmtesten Bühnen Deutschlands, die fortan durch nichts mehr wegzudiskutieren ist. Dalberg selbst schreibt damit internationale Theatergeschichte. Und Mannheim erhält mit Friedrich Schiller seinen ersten fest vertraglich engagierten Theaterdichter.

Die offizielle Uraufführung von Nathan der Weise fand am 14. April 1783 durch die Döbbelinsche Truppe im Theater an der Behrensstraße in Berlin statt. Weder Goethes Iphigenie noch Lessings Nathan der Weise erblickten noch während Dalbergs Intendanz das Licht der Mannheimer Bühne.

Der erwähnte Vortrag über Wolfgang Heribert von Dalberg, der zum Teil weitere neue Erkenntnisse enthält, wird mit allen wissenschaftlichen Nachweisen in der Abschlusspublikation zur Tagung „Carl von Dalberg (1744-1817) und sein Umfeld“, die vom 10. bis 12. Februar 2017 in Aschaffenburg stattgefunden hat, im Spätherbst dieses Jahres erscheinen.

Mannheim, 19. März 2017